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Der ausgeschöpfte Wohlstand

Politische Stimmungslage

Verlustsorgen führen dazu, dass Parteien mit einfachen Lösungen für mehr Wohlstand Zulauf haben. Dabei scheint es aber keine Rolle zu spielen, ob deren Versprechen realistisch sind oder nicht.

 Anton Ladner

Der Herbst führt es jedes Jahr prächtig vor Augen: ohne Verlust kein Leben. Dennoch empfinden die Menschen Verluste als negativ, als Gefühl des Mangels, des Schmerzes oder des Scheiterns. Man verliert einen Gegenstand, erleidet einen existenziellen Verlust – die Arbeit, das Augenlicht, eine Position, das Haus durch Feuer wie in Los Angeles, die Heimat durch einen Krieg wie in Gaza oder durch den Klimawandel. Etwas, das man geliebt oder gebraucht hat, ist verschwunden, nicht mehr da, was schmerzt. Das verdeutlicht, dass der Begriff Verlust einen komplexen Prozess umschreibt, der einen Menschen zutiefst erschüttern und aus der Bahn werfen kann.

Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität Berlin, hat seinem jüngsten Buch den Titel «Verlust, ein Grundproblem der Moderne» gegeben. Er geht von der Grundannahme aus, dass die moderne Gesellschaft ein grundsätzliches Problem mit Verlusten habe, weil sie so massiv fortschrittsorientiert sei. Im Namen des Fortschritts versuche man, Verluste zu verdrängen, unsichtbar zu machen oder erfolgreich zu relativieren. Über allem schwebe offenbar der Glaubenssatz, Probleme würden irgendwann überwunden sein und dann gehe es dank Fortschritt allen (wieder) besser.

Der Slogan des neuen US-Präsidenten «Make America Great Again» steht dafür exemplarisch. Seine Rezepte für neuen Fortschritt: Grönland kaufen, Kanada zum 51. Bundesstaat machen, den Panamakanal übernehmen, illegale Immigranten ausschaffen und hohe Schutzzölle für Importwaren einführen. Diese Massnahmen sollen zu tieferen Preisen in den Supermärkten, günstigeren Häusern und niedrigen Steuern führen, ergo zu einem besseren Leben für alle nach den verlustreichen Jahren.

Andreas Reckwitz schreibt von Erschöpfungsverlusten. Es geht dabei weniger um konkrete Verlusterfahrungen einzelner sozialer Gruppen, sondern um den Prozess, dass die Moderne an ihre Grenzen stösst, sich also erschöpft.

1859 tätigte der Amerikaner Edwin L. Drake eine Bohrung nahe Titusville, Pennsylvania, die als Beginn der modernen Erdölindustrie angesehen wird. 165 Jahre später steht fest, dass durch die Erdölindustrie die Lebensbedingungen auf der Welt geschädigt wurden, die Lösung lautet nun: Ausstieg aus fossilen Brennstoffen. 1920 entdeckte der deutsche Chemiker Hermann Staudinger, dass Kunststoffe aus Makromolekülen bestehen, was den Weg für die moderne Polymerchemie ebnete. 145 Jahre später steht fest, dass jährlich acht Millionen Tonnen Plastik in den Ozeanen landen, in winzige Partikel zerfallen, die in Trinkwasser, Fisch, Honig und sogar im menschlichen Blut gefunden werden. Eine Person nimmt durchschnittlich bis zu fünf Gramm Mikroplastik pro Woche auf – das entspricht etwa einer Kreditkarte. Was das für die Zukunft der Menschen bedeutet, ist noch offen. Mikroplastik könnte aber Entzündungen und Zellschäden im Körper verursachen und das Hormonsystem beeinflussen. Das sind globale Erschöpfungsverluste – der Fortschritt frisst seinen eigenen Erfolg auf.

Nach der exzessiven Expansion in die Natur fügt der Klimawandel nun der Menschheit neue Verluste zu. Ganz konkret mit Bränden wie in Los Angeles oder schleichend mit steigenden Meeresspiegeln. Der Strandverlust an den Feriendestinationen in Sardinien wiegt da weniger schwer als der Landverlust auf den Marshallinseln im Pazifik oder von Teilen der Malediven.

Die Expansion der westlichen Moderne über den Globus, die in den 1990er-Jahren unter der Bezeichnung Globalisierung neuen Fortschritt versprach, wird seit der Coronapandemie rückabgewickelt. Somit erfährt auch die Globalisierung einen Erschöpfungsverlust. Hand in Hand geht damit der Sicherheitsverlust in Europa. Schrankenloser Welthandel als beste Friedenssicherung, konkret russisches Erdöl und Gas für die ganze Welt, hat nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht funktioniert. Ex-KGB-Agent Wladimir Putin setzt Macht über Fortschritt und verkauft das seinem Volk als Aktion für weiteren Fortschritt, grösseren Wohlstand. Die Frauen, die ihre Männer und Söhne im Ukrainekrieg verloren haben, glauben das nicht mehr, sind aber mit neuen Maulkorbgesetzen zum Schweigen gebracht worden. Solche Verluste hat es auch früher gegeben (Hitler, Stalin, Franco), aber durch die neuen Medien werden sie heute überall schneller sichtbar, auch deren Opfer.

Für Andreas Reckwitz liegt in dieser Sichtbarmachung die Eskalation, weil sie die Fortschrittserwartung schwäche. Früher seien Verluste mit den starken Fortschrittserwartungen erfolgreich relativiert worden. Das gelinge heute nicht mehr. Die Vorstellung, dass es den Kindern einmal besser gehen werde, sei heute existenziellen Sorgen gewichen: Das Rentenalter steigt, der Traum vom eigenen Zuhause ist fast nur noch mit einer Erbschaft zu verwirklichen und der Wohlstand bröckelt links und rechts – die Zukunftserwartungen verdüstern sich.

Die populistischen Parteien bedienen ganz gezielt diese Verlusterfahrungen bestimmter sozialer Gruppen, indem sie propagieren, diese rückgängig machen zu wollen und zu können. Alice Weidel von der AfD will die Windräder beseitigen und zurück zu Atomkraftwerken und russischem Gas für tiefe Energiepreise, raus aus der Europäischen Union, zurück zur D-Mark, die Grenzen schliessen und die Ausländer ausschaffen. Dann blühe in Deutschland neuer Fortschritt, so ihr Versprechen. In der Substanz lautet die Lösung aller populistischen Parteien ohnehin: Ohne Ausländer keine Verluste.

Die grosse Herausforderung der Politik liegt heute in einem nicht populistischen Umgang mit Verlusten, die die Menschheit in den Industrienationen nun mal zu verantworten haben.

 

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